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Evangelischer Lehrer- und Erzieherverband Sachsens

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Hildegard Strickerschmidt, Vorsitzende der Internationalen Hildegard-von-Bingen-Gesllschaft, Bingen, international gefragte Referentin und Dozentin, schreibt für die GCLE Sachsen über eine große Frau des Mittelalters

Hildegard von Bingen und ihre Mystik

Hildegard von Bingen


"Denn wer anders als der göttliche Geist, der beste Gnadenspender, tränkte Hildegard an einer so reichlich fließenden Quelle der Heilsweisheit, dass die Fluten geistgewirkter Lehre wie ein Strom lebendigen Wassers in so reicher Fülle aus ihrem Herzen flossen? Die Schwingen innerer Kontemplation trugen diese in ihr verborgen aufgrund höherer Schauung empor, wenn sie das Johannesevangelium kennen lernte."
So schrieb der Mönch Theoderich bereits im 12. Jahrhundert über Hildegard von Bingen kurz nach ihrem Tod in der ältesten Vita (Lebensbeschreibung).
Sie lebte von 1098 - 1179, geboren im Nahetal (heute Rheinland-Pfalz), verbrachte die ersten fünfzig Jahre ihres Lebens zurückgezogen als Benediktinerin auf dem Disibodenberg/Nahe, gründete als Äbtissin um 1150 ein eigenes Kloster bei Bingen/Rhein und dann 1165 ein Zweitkloster jenseits des Rheins in Eibingen, wo heute ihre Gebeine in einem schönen Schrein in der Kirche St. Hildegardis ruhen.
In den letzten Jahrzehnten wurde sie weithin bekannt durch ihre Medizin, ihre Musik, als mutige Frau, die die Mächtigen in Kirche und Staat mahnte, und nicht zuletzt durch ihre Mystik und visionäre Theologie.
Wir tun uns heute schwer mit dem nicht exakt fassbaren Begriff Mystik, der das verborgene Geheimnis meint, das dem äußeren Auge verschlossen bleibt.

Es handelt sich um Innenerfahrungen des Göttlichen, die nicht gemacht, sondern bestenfalls geschenkt werden können. Meditation und Kontemplation können den Boden bereiten, aber die Gotteserfahrung nicht herbeizwingen.
Hildegard von Bingen sieht sich in einer Linie mit den alttestamentlichen Propheten, sie bezeichnet sich als die "Posaune Gottes", die das hinaustönt, was in sie hineingesprochen wird. Wenn heute immer wieder versucht wird, ihre Gabe der inneren Schau bestenfalls als Ergebnis eines Erkenntnisweges zu bezeichnen, oder aber als subjektive Überhöhung religiöser Erfahrung, um durch die Vorgabe von Visionen besser Gehör zu finden oder gar als Geisteskrankheit oder Migräne - so zeugt das bestenfalls von Unkenntnis oder Missdeutung.
Halten wir es heute noch für möglich, dass es einen Gott gibt, dessen Geist am Werk ist? Und wenn ja, welche Wirksamkeit trauen wir ihm zu? Unsere
verwissenschaftlichte Theologie kann keine Türen zu einer tieferen Erfassung der göttlichen Geheimnisse mehr öffnen. Sie braucht dringend die Ergänzung durch die Mystik, so wie der katholische Theologe Karl Rahner es formuliert hat: Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein.
Von Kind auf erfährt Hildegard in ihrer Seele das große Licht Gottes. Im 43. Lebensjahr kam ein "feuriges Licht mit größtem Blitzen bei geöffnetem Himmel und durchströmte mein ganzes Gehirn. Mein ganzes Herz und meine ganze Brust durchglühte es wie eine Flamme. Es verbrannte jedoch nicht, sondern wärmte, wie die Sonne das erwärmt, auf das ihre Strahlen fallen.
Und plötzlich bekam ich Einsicht in den innersten Sinn der Heiligen Schriften... Und die himmlische Stimme sprach: Verkünde laut, damit die belehrt werden, die den innersten Sinn der Schriften kennen, aber lau und schwerfällig sind und sie nicht verkündigen wollen."
Hildegard erfuhr durch große Schauungen allein mit den Augen ihrer Seele in wachem Zustand, in mächtigen symbolischen Bildern die Geheimnisse der Schöpfung im Kosmos und im Menschen; sie bekam auch einen Einblick in die tiefsten Geheimnisse des dreifaltigen Gottes und die Erlösung des in die Gottesferne gefallenen Menschen. "Steh also auf, verkünde laut und sage,
was dir durch die stärkste Wirkkraft göttlicher Hilfe kundgetan wird. Denn ER, der jedem Geschöpf seine Weisung machtvoll und gütig befiehlt, durchströmt jene mit himmlischer Erleuchtung, die ihm ehrfürchtig und mit sanfter Liebe dienen."
Hildegard gibt als einzige Quelle ihrer Erkenntnisse die Heilige Schrift an. Als Benediktinerin betet sie sechsmal täglich ihr Stundengebet, das sind die Psalmen. Es ist ihre einzige geistige Nahrung. Die Bilder der Schrift werden in ihr lebendig und bekommen eine ungeahnte Tiefe. "Gott, der alles in seinem Willen begründet hat, hat es geschaffen, dass sein Name anerkannt und geehrt werde. Aber er offenbart nicht nur das, was daran sichtbar und zeitlich ist sondern auch was daran unsichtbar und ewig ist."
Mystiker sind nicht Menschen, die von der Wirklichkeit abgehoben sind, sondern die den Durchblick haben. Alles Sichtbare wird durchscheinend für die unsichtbaren göttlichen Geheimnisse. Wie alle Propheten ist Hildegard auch eine Mahnerin. Sie hört Gottes Stimme mit ihrem inneren Ohr: "Sei also nicht furchtsam, sondern sage das, was du verstehst, im Geiste, wie ich diese Dinge durch dich ausspreche. Es sollen jene eine heilige Scheu haben, die meinem Volk die Gerechtigkeit offen verkünden sollen, sich aber infolge ihrer ausgelassenen Sitten weigern. Denn sie wollen sich nicht von ihren schlimmen Leidenschaften lösen, die sie derart fesseln, dass sie vor dem Angesicht des Herrn erröten und nicht wagen, die Wahrheit auszusprechen."
Dabei hat das Tun jedes Menschen nicht nur eine Auswirkung auf sein eigenes Leben sondern auch auf die menschliche Gemeinschaft und den ganzen Kosmos, denn "vom Herzen des Menschen geht ein Weg zu den Geschöpfen" und der Mensch "hält das Weltennetz in seinen Händen".
Hildegard hat eine großartige, einmalige Zusammenschau von Gott, der das Leben ist und seinen Geist der Liebe in alle Geschöpfe ausgießt. Der Mensch ist sein "größtes Wunderwerk" und in ihn hat er die ganze Schöpfung eingezeichnet. Er hat ihn als sein Abbild geschaffen und ihn mit Verstand, Vernunft, Einsichtsfähigkeit, Urteilsfähigkeit und freiem Willen begabt.
Ihm hat er die ganze Schöpfung anvertraut, damit er in Liebe mit dieser Schöpfung wirke und damit sein Heil finde. "Jedes Geschöpf sehnt sich nach liebender Umarmung." Die größte Offenbarung der Liebe Gottes aber ist, dass sein Wort "das Fleisch angezogen" hat, denn durch die "Menschwerdung
des Wortes kam alle mütterliche Liebe Gottes auf uns herab".

Die mystische Schau Hildegards ist keine Gefühlsduselei und ist keinesfalls nur emotionales Angesprochensein. In ihr ist die größte "rationalitas", die höchste Vernünftigkeit, in der sich Herz und Geist vereinigen.

 


Eine Frau in der Kirche – Hildegard von Bingen

Welche Stellung und welche Aufgabe hat die Frau in der Kirche? Geht es darum, den Zugang zum Amt zu erhalten oder geht es um einem möglicherweise speziellen Auftrag der Frau in der Kirche?
Unter diesem Aspekt ist eine Anfrage an eine der bedeutendsten Frauen im christlichen Abendland lohnend, nämlich an Hildegard von Bingen. Sie wird immer wieder erwähnt als eine Kritikerin der Kirche, die die Missstände im Klerus schonungslos anprangerte und nicht vor mahnenden Worten an hochgestellte Würdenträger, sogar an drei Päpste, zurückschreckte. Sie scheint sich auch gut zu eignen als Protagonistin der modernen Frauenbewegung und der feministischen Theologie. Sie ließ sich nicht beirren von abwertenden Angriffen wegen ihres Frau-Seins und verfolgte auch gegen massiven Widerstand einzelner einflussreicher Kleriker ihre einmal gesteckten Ziele. Sie unterwarf sich zwar zunächst den kirchlichen Anordnungen, auch wenn sie noch so falsch waren, kämpfte aber dann mit allen legalen Mitteln für eine gerechte Entscheidung. Wenn wir auch im nachhinein ihre inneren Kämpfe nicht mehr feststellen können, so ist doch beachtlich, dass sie sich trotz gravierender Ungerechtigkeiten immer um Ausgleich und Aussöhnung bemühte und sich nicht zu Zorn oder Hass hinreißen ließ.
All diese Negativ-Erfahrungen mit den Menschen in der Kirche konnten bei Hildegard von Bingen nicht das Bild der Kirche selbst verdunkeln. Sie schaute die Kirche als Gründung Jesu Christi wie eine Frau mit goldener Krone und goldenem Gewand. Von ihren Armen ging, „herabfallenden Ärmeln gleich, ein heller Glanz aus, der vom Himmel bis zur Erde niederstrahlte.“ Sie ist die Braut, die dem Sohne Gottes durch das Bad der Taufe immer neue Kinder gebären soll, die dann, nachdem ihnen das „schmutzige Gewand“ abgezogen ist, in hellstrahlender Klarheit die Wege Gottes gehen. Allerdings ist diese Frau (die Kirche) von der Taille ab verschattet oder sogar blutig und schmutzig wegen der Schwächen, Laster und schlechten Taten der Menschen in der Kirche. „Grausame Verkehrtheit wird ihr in ihren Gliedern heiße, blutige Verfolgung bereiten.“(Scivias II/ 3..Schau) Und gegen diese Dunkelheiten hat Hildegard unentwegt ihre Mahnungen gerichtet.



Die verkündigende Frau – verachtet und bewundert


Hildegard von Bingen war in Kirche und Staat ihrer Zeit eine stark beachtete Persönlichkeit. Nicht, weil sie wie die großen Theologen scharf durchdachte Lehrsysteme aufgebaut oder in geschliffener Rede didaktisch geglänzt hätte, – was ihr immer wieder von diesen vorgeworden wurde - sondern weil sie mit glühendem Herzen und klarer Unterscheidungsgabe an die Weitergabe des Wortes Gottes und der von Jesus Christus gestifteten Sakramente mahnte. Diese Mahnung geht vor allem an die Amtsträger in der Kirche, damit sie getreu dem Auftrag des Herrn den Menschen Führung und Halt auf dem Weg zum Heil geben. Sie hört Gottes Stimme: „...rufe und sage, wie man in die Erlösung, die alles wiederherstellt, eingeht, damit die unterrichtet werden, die, obgleich sie den innersten Gehalt der Schriften kennen, ihn dennoch nicht aussprechen oder verkünden wollen. Denn sie sind lau und schwerfällig, die Gerechtigkeit Gottes zu beobachten... Ergieße dich wie ein überreicher Quell und ströme geheimnisvolle Lehre aus, damit durch die Flut deiner Wasser jene aufgerüttelt werden, die um der Sünde Evas willen dich (als Frau) für verächtlich halten....“ (Sc S.9)
Hildegard erfährt von den Männern in der Kirche in gleicher Weise die Abwertung als Frau als auch die Anerkennung ihrer geistgewirkten Rede.
Der ehemalige Abt Rupert von Königstal (Diözese Toul) rief bei der Lektüre ihres Briefes voller Begeisterung aus: „Diese Worte können von niemand anderem als vom Heiligen Geist stammen. Die scharfsinnigsten Meister Frankreichs bringen so etwas nicht zustande... Sie machen mit trockenem Herzen und aufgeblasenen Backen großes Geschrei, verlieren sich in Untersuchungen und Streitfragen... Aber diese gottselige Frau...betont nur das Eine Notwendige, nämlich die Ehre des dreieinigen Gottes. Sie schöpft aus ihrer inneren Fülle und gießt sie aus, um den Durst der Dürstenden zu stillen...“
Für Menschlichkeit und Barmherzigkeit einstehend
Wenn hier der Abt das Bild vom Schöpfen und Ausgießen wählt, trifft er wohl genau das Spezifische an Hildegards Wirken: Sie will den spirituellen Durst der Menschen stillen, sie will das Leben ermöglichen, sie will dem Menschen in seiner konkreten Lebenssituation helfen.
Das Bild des Wassers, des überreichen Quells, ist ein uraltes Symbol, das in besonderer Weise dem Weiblichen zugeordnet wird. So wirkt in Hildegard der Geist Gottes im Gefäß einer Frau mit deren besonderen Stärken und Schwächen. Sie lebt mit der sensiblen Empfänglichkeit einer Frau, die in den Tiefen ihrer Seele die Geheimnisse Gottes schauen durfte und die mit allem Lebendigen zutiefst mitfühlte.
In ihrem Briefwechsel finden wir denn auch viele Mahnungen gegen Härte und Tyrannei, die sie an hochgestellte Männer richtet:“...wenn du dieses Volk nicht im Bade wäschst, um es zu heilen, ziehst du nicht vor ihm her, sondern führst es in die Fremde des Elends... Du bist da zum Segnen der Kinder und nicht zur Züchtigung des dienenden Knechtes...“ (Briefwechsel. S. 89)
Oder: „Viele Arbeiter kommen mit ihren Angelegenheiten zu dir... Du aber redest in großsprecherischer Aufgeblasenheit und rufst dadurch Entrüstung in ihnen hervor.“ (An Bischof Hermann von Konstanz, Br. S. 59)
Selbst Papst Eugen III mahnt sie: „...Steh auf ebenem Weg, damit du nicht der Anklage verfällst wegen der Seelen, die in dein Herz gelegt sind. Lass nicht zu, daß sie durch die Gewalt der üppig lebenden Prälaten im Pfuhl des Verderbens versinken...“
Für Hildegard als Frau steht immer der Mensch im Mittelpunkt ihrer Sorge, nicht ein theologisches Lehrgebäude.
Dem Mann ist die Erde, der Frau ist der Mensch anvertraut (s. Buch Genesis). Dementsprechend sind auch die Begabungen verteilt. Ein Psychotherapeut unserer Tage, Prof. Paul Tournier, drückt das so aus: das Interesse des Mannes ist auf die Sache, das der Frau auf die Person gerichtet.
In ihrer großen Kosmosvision sieht Hildegard von Bingen den Menschen in der Mitte des Kosmos, „denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe... weil Gott wusste, dass sein Sohn Mensch werden sollte.“

Die heilende Frau
Es geht ihr immer um das Heil des Menschen. Sie nimmt sich der leiblichen und seelischen Nöte des Menschen an. Jeder Mensch braucht Barmherzigkeit und mütterliche Zärtlichkeit, damit er heil wird und sein Heil wirken kann. Das geschieht durch die barmherzige Zuwendung Gottes.„Durch den Lebensquell des Wortes kam nämlich die umarmende Mutterliebe Gottes zu uns; sie nährt unser Leben, hilft uns in Gefahren und leitet uns - als tiefe und zarte Liebe - zur Buße an.“ (Sc. S. 120) Kirche leben heißt, diese Barmherzigkeit gegenseitig weitergeben. Die mystischen Erfahrungen Hildegards weisen auf den therapeutischen Kern der christlichen Botschaft hin.
In ihrer Heilkunde vermittelt sie aber auch die Kenntnis der Kräfte, die Gott zu unserem Wohl in die Natur gelegt hat. Sie dienen für die Bedürfnisse des Leibes und zum Heil der Seele. „Die Seele liebt ihren Leib und hat ihre Freude daran, in ihm schöpferisch tätig zu sein.

Die schwache und zugleich starke Frau

„ Ich fühle keinerlei Sicherheit in mir und immer bin ich von einer zitternden Furcht erfüllt. Ich fühle mich wie eine Feder, die vom Wind gehalten wird; so werde ich von Gott gehalten.“
Die uns so selbstbewusst anmutende Frau erfüllt den Auftrag Gottes im Bewusstsein der eigenen Schwäche, unter dem Widerstand der eigenen Furcht und wird dadurch zu einer mutigen und starken Frau.
Wie wir aus ihrer Lebensbeschreibung entnehmen können, musste sie sehr häufig durch Krankheit gezwungen werden, den von ihr innerlich vernommenen Auftrag zu erfüllen.
„Freue dich, denn Gott hat dich so in der Hand, dass du dich in keiner Weise auf die eigene Sicherheit zu stützen brauchst.“

 

 

Hildegard von Bingen als Heilkundige

Eine nicht geringe Zahl von Menschen finden den Zugang zu Hildegard von Bingen über ihre Heilkunde. Sie erfahren, wie ein ganz einfaches pflanzliches Heilmittel ihre Beschwerden lindert oder heilt - ohne die gefürchteten Nebenwirkungen der pharmazeutischen Medikamente. Dazu konträr stehen viele Wissenschaftler - Mediziner, Historiker, Theologen, die das heilkundliche Werk Hildegards als "Kompendium mittelalterlicher Heilkunde" bezeichnen, das heute keinerlei Bedeutung mehr hat und nicht zu ihren visionären Werken zu zählen sei. In den meisten der heute auf dem Markt befindlichen Biografien findet man diese Wertung.

Ihre Heilkunde umfassend zu würdigen ist im Rahmen eines so kurzen Artikel nur sehr schwer möglich. Es ist zugleich eine Heilkunde und eine Heilskunde. Für Hildegard steht immer der ganze Mensch im Mittelpunkt ihrer Erkenntnisse: Er soll heil werden und sein Heil wirken. Er ist eingebettet in die großen Zusammenhänge des Kosmos und hat zugleich Anteil am geistigen Bereich Gottes. "Der Mensch ist das große Wunderwerk Gottes. Er ist komponiert aus Materie und Geist. Er ist ein geschaffenes Werk, das selbst wieder schöpferisch tätig sein soll." Entsprechend komplex sind die Erkenntnisse Hildegards für die Heilung und das Heil des Menschen. Ihre Zusammenschau (Synthese) ist eine Herausforderung an den modernen Menschen, der an das naturwissenschaftliche analytische Denken gewöhnt ist.

Am ehesten lässt sich ihre Heilkunde vergleichen mit den traditionellen Heilweisen anderer Kulturen, bei denen sich sowohl die ganzheitliche Sichtweise als auch der spirituelle Aspekt findet. Der große Unterschied liegt im christlichen Kern der "Inneren Schau" Hildegards. Die Heilung des Menschen ist untrennbar gekoppelt an die Erlösungstat Jesu Christi.

Wie ich nach einem intensiven 20-jährigen Studium der hildegardischen Schriften festgestellt habe, ist es unzulässig, ihre Heilkunde, auch ihre medizinischen Erkenntnisse, aus ihrem visionären Werk herauszulösen, wenn es auch dem heutigen Menschen sehr schwer fällt. Wenn ich jetzt versuche, einzelne Schwerpunkte zu bearbeiten, so schwingen immer alle anderen Bereiche mit.

1. Die Naturheilkunde
Hildegard beschrieb in ihren medizinischen Schriften ("Das Buch von den Wesenheiten - subtilitates - der verschiedenen Naturen der Geschöpfe") Pflanzen, Bäume, Tiere, Steine, Menschen, ihre Eigenschaften und Kräfte und entsprechende Rezepturen. und Anwendungen. Heute sind diese Schriften übersetzt als "Physika - Heilkraft der Natur" und "Causae et curae – Von den Ursachen und der Behandlung von Krankheiten." Hildegard gibt an, dass sie diese Kenntnisse aufgrund ihrer besonderen Begabung erhalten habe. "Sind doch in der ganzen Natur, in den Tieren, den Reptilien, Vögeln und Fischen, in den Pflanzen und Fruchtbäumen bestimmte verborgene Geheimnisse Gottes verhüllt, die kein Mensch, auch kein anderes Geschöpf, kennen oder empfinden kann, es sei denn, dass es ihm von Gott besonders geschenkt wird." (H.v.B.: Welt und Mensch)
Bei einer sicher anzunehmenden Kenntnis der mittelalterlichen und antiken Medizin findet sich dieses Wissen jedoch kaum in ihren Schriften. Durch medizinhistorische Untersuchungen wurde festgestellt, dass Hildegard aus einem breiten Spektrum der tradierten Indikationen nur einige wenige, allerdings sinnvolle Anwendungsbereiche herausgreift, und dass sich bei zahlreichen Drogenbeschreibungen keine Entsprechungen im mittelalterlichen oder antiken Schrifttum angeben lassen. Außerdem hat Hildegard von Bingen verblüffende Aussagen über spezifische Drogenwirkungen gemacht, die erst in jüngster Zeit wissenschaftlich bestätigt werden konnten. Auch ist in manchen Fällen der Einsatz der Pflanzendroge weder aus der Rezepttradition pflanzlicher Heilmittel noch durch heutiges pharmakologisches Wissen zu deuten oder zu begründen.
Durch Dr. Gottfried Hertzka aus Konstanz wurde die Medizin der hl. Hildegard bekannt gemacht; heute sind etwa 300 Rezepturen aufbereitet und anwendbar. Es gibt Ärzte, Heilpraktiker, Apotheken, Reformhäuser usw., die Naturheilmittel nach Hildegard anwenden und führen. Die damit gemachten Erfahrungen sind erstaunlich positiv. Am bekanntesten ist der Dinkel, der sowohl als Nahrungs- als auch als Heilmittel Verwendung findet. Heilkräftige Gewürze, wie z.B. Galgant, Bertram, Quendel und viele mehr sind für viele Hildegard-Freunde aus der Küche nicht mehr wegzudenken. Wie leicht verständlich, stehen viele Gegner auf dem Plan, da heute leider immer noch ein Konkurrenzkampf zwischen Schulmedizin und Naturheilverfahren ausgefochten wird, wobei ein Miteinander für den Patienten sehr segensreich wäre. Bei Hildegard kommt noch eine weitere Komponente dazu: der religiöse Aspekt, der in der heutigen säkularisierten Gesellschaft bestenfalls unter die Rubrik Magie fällt.

Im folgenden Hildegard-Text kommt die Zusammenschau von Welt, Mensch und Gott sehr deutlich zum Ausdruck:
"Die gesamte Schöpfung, die Gott in der Höhe wie in den Tiefen gestaltet hat, lenkte er zum Nutzen des Menschen. Und wie die Geschöpfe dem Menschen für seine leiblichen Bedürfnisse zu dienen haben, so sind sie auch nicht weniger zum Heil seiner Seele bestimmt. Die ganze Natur sollte dem Menschen zur Verfügung stehen, auf dass er mit ihr wirke, weil ja der Mensch ohne sie weder leben noch bestehen kann.
Hildegard-Heilkunde ist weit mehr als nur Rezepte - es ist eine Lebensphilosophie, die zu einer neuen Lebensqualität führt. Max Thürkauf, Professor für pysikalische Chemie sagte treffend: "Die Hildegard Darstellungen über die Wesenheiten der Geschöpfe sind mit der Begrifflichkeit der modernen Naturwissenschaft nicht zu erfassen. Jene, die versuchen, mit den Vorstellungen der modernen Chemie, Physik und Biologie die hildegardische Naturlehre zu begründen oder zu widerlegen, gehen an der Substanz der mystischen Tatsache ihrer Visionen vorbei. Hildegard weist auf die Möglichkeit einer erweiterten Naturwissenschaft hin: Auf eine Naturforschung in christlicher Freiheit, also eine Wissenschaft, die nicht frei von Gott - wertfrei - sondern frei für Gott ist."

2. Die Psychosomatik: Leib - Seele Einheit
Das ist die zweite wichtige Botschaft Hildegards für uns heute, dass die seelischen Befindlichkeiten, unsere Gefühle und Einstellungen, entscheidend an unserer Gesundheit beteiligt sind. Heute wird der Mensch vom Körper her behandelt und wird in seiner leib-seelischen Ganzheit kaum noch wahrgenommen. Viele Zeitgenossen fürchten, als abnormal zu gelten, wenn eine Krankheit als psychisch begründet bezeichnet wird. Hildegard aber
sieht durchgängig ein existentielles Zusammenwirken und Aufeinander-Angewiesensein von Seele und Leib. "Die Seele ist die lebendige Lebenskraft (Grünkraft) im Leibe; sie durchdringt die weichen Gewebe des Körpers ebenso wie die starken Knochen und die Gefäße. Die Seele wirkt im Leib und durch den Leib. Sie hält ihn für ein erfreuliches Gewand und eine schöne Zier." Die Freude ist die wichtigste gesund machende Kraft. "Die Leber braucht die Freude, wie die Blume den Sonnenschein."
Gedanken, Gefühle und Einstellungen wirken sich im Organismus aus. Sie beschreibt viele Negativhaltungen, wie z. B. Zorn und Wut, Habgier (Laster) und viele andere, welche die verschiedensten Organe schädigen und häufig der Grund für schwere Krankheiten sind. "Wenn sich die verschiedenartigen Gedanken eines Menschen durch Nachgiebigkeit, Leichtfertigkeit und schlüpfrige Eitelkeit ausbreiten, dann neigen sie in diesem Leichtsinn dazu, die Gerechtigkeit in jenem Menschen zu ersticken..
Sie verwirren das Gewissen, lassen den Menschen gefräßig werden, verursachen Herzbeschwerden, greifen die Lunge an, so dass er kaum noch atmen kann und können sogar eine Lungenentzündung verursachen.
Die aufbauenden Kräfte hingegen, die Tugenden, machen den Menschen auch in "seinem Leibe blühend". Sie beschreibt als Gegensatz zu den 35 Lastern die entsprechenden Tugenden wie z.B. Wahrhaftigkeit, Liebe, Glaube, Mäßigkeit, Hoffnung, Friedfertigkeit, Barmherzigkeit.
Diese wenigen Beispiele mögen uns bewusst machen, wie weit die materialistische, mechanistische Betrachtungsweise und von der lebendigen Ganzheit des Menschen entfernt hat. Erfreut konnte ist vor wenigen Monaten entdecken, dass die moderne Gehirnforschung diese Zusammenhänge neu erfroscht. (Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers, Eichborn Verlag) "Geistige Tätigkeit, aber auch Gefühle und Erlebnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen haben im Gehirn biologische Veränderungen zur Folge, über die wir bis ins Detail hinein inzwischen einiges wissen. Da alles, was wir geistig tun, seelisch fühlen und in Beziehungen gestalten, seinen Niederschlag in körperlichen Strukturen findet, macht, wie es Thure von Uexküll auszudrücken pflegt, eine Medizin für "Körper ohne Seele" ebenso wenig Sinn wie eine Psychologie für "Seelen ohne Körper"... Überall da, wo sich Quantität und Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen vermindern, erhöht sich das Krankheitsrisiko."

3. Heilung durch den Glauben
Heilung geht weit über den Zustand von momentaner Beschwerdefreiheit hinaus und kann nicht allein durch Anwendung eines Medikamentes erreicht werden. Sie befasst sich mit der Frage, warum denn der Mensch in einem nicht-heilen Zustand lebt, ständig angefochten, von Krankheit bedroht und so dringend der Heilung bedürftig ist. Spätestens bei der Beschreibung der aufbauenden "Tugenden" wird uns bewusst, wie wir aus eigener Kraft den positiven Zustand kaum halten können.
" Auch der gläubige Mensch kann die Ruhe nicht haben, die er doch ständig ersehnt." Wir finden bei Hildegard keine andere Antwort als die der Heiligen Schrift, dass nämlich der Mensch durch seinen Hochmut und Omnipotenzanspruch herausgefallen ist aus dem Leben und der Liebe Gottes, und mit ihm der ganze Kosmos. Dadurch hat er Lebenskraft eingebüßt und wurde krankheitsanfällig. Der Mensch aber kann sich nicht aus eigener Kraft aus der Dunkelheit und Schwachheit erheben sondern ist auf die Hilfe und Erlösung durch Gott angewiesen. Deshalb ist bei Hildegard die Erlösungstat Jesu Christ im Zentrum ihrer Heilkunde. Hildegard hört in ihren Visionen immer wieder die himmlische Stimme, die ihr zusichert, dass Gott darauf wartet, von den Menschen angerufen zu werden: "Wie soll ich dem antworten, dessen Stimme ich nicht höre? Rufe, weine, bete und ich werde dir helfen." Die Wunden werden mit dem Wein der Reue ausgewaschen und mit dem "Öl der Barmherzigkeit Gottes" gesalbt.
Hier beginnt die innere Heilung. die nur im Glauben erfahren werden kann. Ohne diese gläubige Verankerung und Rückbindung bei einem Gott, der sich uns in Jesus Christus als der liebende Vater zu erkennen gegeben hat, wird keine Heilung möglich sein. Dieser Aspekt der Heilung ist heute weitgehend aus dem Bewusstsein geschwunden. Man kann sich fragen, wie die christlichen Kirchen zum Auftrag Jesu stehen: "Heilt die Kranken".
Der heutige Mensch in seinem spirituellen Hunger sucht Heilung bei den verschiedensten neu-religiösen oder esoterischen Richtungen. Hildegard von Bingen als christliche Mystikerin kann in das Zentrum des heilenden, liebenden, barmherzigen Gottes führen, dem der Mensch sehr am Herzen liegt. Hildegards Heilkunde kann nur richtig verstanden werden in der Zusammenschau aller Lebensbereiche, wobei kein Bereich isoliert vom anderen betrachtet oder angewendet werden kann.